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Vom Bewahren und Verändern


BewahrenVeraendern

Gut eingespielte Teams verfügen immer auch über eine eingespielte Teamkultur. Wir alle kennen Sprüche wie „Never change a winning team“ oder „Don’t touch a running system”. Wenn es funktioniert, dann lass es so! Bewahren bedeutet dabei, nichts zu verändern oder zu zerstören, festgeschriebene Normen und Regeln sowie eine ausgeprägte Kultur, an die sich alle halten. Gleichzeitig wissen wir aber: „Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte.“ (Gustav Heinemann). Denn zum einen verändert sich unsere Umwelt fortlaufend und zwingt uns, sich ihr anzupassen. Zum anderen können sich auch Gruppenkonstellationen ändern. Totale Beständigkeit wäre totale Erstarrung. Ständige Veränderung wäre totales Chaos. Beides ist also im Extrem der Tod jeder Struktur. Wir haben es mit einem stetigen Spannungsfeld zu tun. 


Im Hin und Her zwischen den Positionen kann die eigene Bequemlichkeit zum zusätzlichen Konfliktherd werden. Die, die schon lange mit dabei sind, die alles schon kennen, die Prozesse  einstudiert haben und für die es seit langem gut läuft, finden im Bewahren eine angenehme Komfortzone. Doch auch das Verändern kann Komfortzone sein, zum Beispiel dann, wenn man bereits im Vorfeld meint, mit dem Bestehenden nicht klarzukommen, oder es sich einfach nur passend machen will. Der Status quo passt einigen mehr, anderen weniger – und deshalb wird er in Frage gestellt. Es geht um das ständige Aushandeln des Gemeinsamen. 


Ein Beispiel aus der Praxis


In einem Hausprojekt, das seit über 20 Jahren mit viel Leidenschaft vorangetrieben wird, ziehen in den letzten Jahren immer mehr neue Leute immer schneller wieder aus. Zwischen den alten und den neuen Bewohnerinnen und Bewohnern des Hauses gibt es unterschiedliche Erwartungen und Wünsche in Bezug auf Veränderungen. Das führt zu Konflikten.


Die Teilnahme am wöchentlichen Plenum schrumpft – an sich eine Pflichtveranstaltung. Von den 35 Personen, die derzeit gemeinsam unter einem Dach leben, kommen viele gar nicht mehr oder nur noch sehr selten. Die Gruppe will daran etwas ändern. Dazu werden verschiedene neue Ideen entwickelt, vor allem von den “Neu-Eingezogenen”. Bei der Bearbeitung der Vorschläge im Rahmen eines Workshops fällt auf, dass es zu jedem Vorschlag sofort eine Gegenrede gibt. Es wird auch klar, dass der Umgang mit Veränderungsvorschlägen innerhalb der Gruppe nicht produktiv ist. Besonders prägnant: Viele Vorschläge zu Veränderungen kommen von denselben Leuten – meist den Neuen. Ein anderer Teil der Gruppe neigt hingegen dazu, diese abzulehnen – oft die Alten. Ein klares Muster?


Um aus diesen Mustern auszubrechen, habe ich zur Anregung zwei Texte zur Verfügung gestellt: Zum einen das Manifest der School of Collaboration, bei dem es mir vor allem um die passende Haltung zu meinem Gegenüber geht, zum anderen einen Auszug aus der Holacracy-Theorie, konkret: Governance-Meetings-Card.pdf, in dem man sich mit dem Erkennen und dem Umgang mit echten Einwänden auseinandersetzt.


Im nächsten Plenum bildeten wir zwei Arbeitsgruppen. Diese sollten gemeinsam Lösungen entwickeln, die für beide Seiten akzeptabel sind. Erstaunlich schnell kamen wir zu neuen Varianten, die für alle Beteiligten annehmbar waren. Dabei wurden die ursprünglichen Vorschläge meistens nur leicht ergänzt oder abgewandelt. Besonders positiv war, dass die ganze Gruppe weiterhin gemeinsam an einer Lösung arbeitete, anstatt – wie sonst – gegeneinander zu agieren und sich schnell aufzuspalten in solche, die dafür und andere, die dagegen waren. Im Verlauf der Reflektion konnten dann grundsätzliche Erkenntnisse gewonnen werden:


Position der Bewahrenden:

  • Warum soll sich alles verändern, was seit Jahren gut funktioniert? Menschen, die neu einziehen, sollen sich an die Gegebenheiten anpassen, für die sie sich mit dem Einzug entschieden haben.
  • Veränderungen sind anstrengend
  • Wir fühlen uns als „Bremser“ stigmatisiert.


Position der Erneuernden:

  • Anpassung wird nur von uns verlangt. Die „Alten“ verharren zu sehr im Status quo. Das Ankommen im Gemeinsamen ist so nicht möglich.
  • Die “Alten” haben durch ihre sozialen Bindungen in der Gruppe viel mehr Macht in ihren Positionen. Wir fühlen uns dadurch oft allein gelassen.
  • Wir fühlen uns als Bedrohung empfunden.


Fazit
In der Aussprache zeigte sich, dass die Arbeit in der Kleingruppe den offenen Austausch deutlich erleichtert hat. Damit sich alle im Haus wohlfühlen können, müssen die unterschiedlichen Bedürfnisse aufeinander abgestimmt werden. Der Konflikt zwischen Bewahren und Erneuern ist ein alt bekanntes Spannungsfeld, zu dessen Lösung sich beide Seiten aus ihrer Komfortzone bewegen müssen. Sich selbst als Wertverkörperung, den Gegner aber als Verkörperung des „Unwerts“ zu sehen, erzeugt ein Durcheinander von Sach- und Beziehungsebene, weil die Vorwürfe unter die Gürtellinie zielen.


Die gegenseitige Stigmatisierung und Rollenzuschreibung wurden in der ersten gemeinsamen Arbeit daran offen thematisiert. Die benutzte Methode selbst wurde als “Türöffner” für die gemeinsame Arbeit an den Veränderungsprozessen angenommen. Wichtig ist jetzt zu erkennen, dass das Aushalten der Spannung zwischen beiden Polen bereits ein wesentlicher Teil der Lösung sein kann. „Jede der beiden Parteien tritt für ein wertvolles Prinzip ein, hat sozusagen einen Zipfel der Wahrheit erwischt.“ wie Friedmann Schulz von Thun schreibt. Zusätzlich kann es helfen, klarer zwischen Strategien und Zielen zu unterscheiden: “Ich will dieses tun, um damit jenes zu erreichen”. Denn häufig sind die Strategien unterschiedlich, die Ziele aber ähnlich. So können neue Impulse entstehen, die gemeinsam bearbeitet werden können. Man kommt aus dem Gegeneinander raus und hin zu einem neuen Miteinander.


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